Abstrakte Realitäten von Maik Schlüter

Die Ökonomie des Blickes ist auch eine Ökonomie der Zeichen und ihrer Bedeutung. Das intuitive und gleichsam automatische Sehen wird konditioniert durch die Schule des Sehens. Der Prozess der Benennung und Bewertung ist integraler Bestandteil unserer Kunsterfahrung. Je mehr wir wissen, desto mehr sehen wir. Aber was passiert beim Anblick eines abstrakten Bildes? Wer sagt uns, dass es abstrakt ist? Oder anders formuliert: Wie können wir behaupten, dass etwas konkret ist? Gibt es einen unschuldigen Akt des Sehens? Dass die Kunst der Moderne sich immer mehr in Richtung der Abstraktion, der Illusion, der Sprache des Materials, der bildnerischen Autonomie und der Selbstreferenzen bewegte und sich dabei mehr und mehr den repräsentativen Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens entzog, ist eine unscharfe Definition. Ja, es stimmt, dass die Kunst diesen evolutionären Zug bis heute in sich trägt und dennoch ist diese Form der Geschichtsschreibung auch eine Projektion der akademischen Kunstgeschichte. Selbst dann, wenn man unterstellt, dass gerade die Abstraktion einem strikten Reglement folgt und spezifische Zwecke erfüllt. Denn gegenstands- und intentionslose Kunst gibt es nicht: Als Produzenten und Betrachter füllen wir immer die Lücke zwischen zwischen Welt und Bild.

Jedes Bild ist eine Abstraktion, ein Modell, eine Übersetzung, ein Versuch, eine Fiktion. Jede Farbschicht, jeder Lichtreflex, jede Kontur und jede Figur sind Sprünge in den Kosmos der Welterfindung. Immerfort gilt es Bedeutungen und Bedingungen, Herkunft und Herleitungen, Zusammenhänge, Ansichten, Motive und Wirkungsweisen zu beschreiben und zu verstehen. Wir sehen, was wir wissen. Und gleichzeitig sehen wir, was wir sehen wollen, sollen, können, müssen oder dürfen. Häufig sehen wir statt Bildern nur Texte, denn auch ohne dass wir ein Bild kennen, können wir eine ganze Menge darüber wissen, sagen oder schreiben. Geschichte, Kultur, Konsens und Konzessionen holen uns immer ein. Was wirkt wie und auf wen? Und warum immer anders und nie gleich? Der Bildraum ist zu gleich äußerlich und innerlich. Damit ist alles und nichts gesagt. Und gerade deshalb kennt die Kunstgeschichte so viele Manifeste und Expertisen der Kritik. Kunst und Wissenschaft arbeiten beide mit Modellen. Wie brüchig der Konsens und die Zwangsläufigkeit ist, zeigen uns die Krisen und Katastrophen, die Bilder- und Feuerstürme, aber auch die Wunder, Zeichen und Verführungen. Der scheinbare Widerstreit zwischen der Logik und dem Gefühl ist eine Erfindung.

Antje Smollichs Bilder rutschen scheinbar ab und expandieren über den Rahmen hinaus. Was fest ist, wird dynamisch, was verschlossen ist, öffnet sich, um dann wieder verschlossen und fixiert zu werden. Wenn Smollich große Plexiglasplatten auf einen Bildträger presst und den verwendeten Kleber gleichzeitig als sichtbares Material des Bildes verwendet und wenn sie dadurch gleichermaßen die Oberfläche thematisiert und den Grund des Bildes zeigt, dann gibt es keine konventionelle Bildlogik mehr. Grund und Figur, Bild und Objekt, Fläche und Raum ziehen sich zusammen und werden zu einem bildhaften Objekt. Viele ihrer Bilder entstehen in der Horizontalen und werden nach Fertigstellung in die Vertikale gekippt: Vom Liegen zum Stehen, vom Finden, Machen, Bearbeiten zum Zeigen und Präsentieren. Diesen Prozess zeigt Smollich explizit: Wir sehen ein abgeschlossenes Bild und den Prozess seiner Entstehung. Der Prozess der Verklebung und Verschiebung zwingt das Material in eine andere Logik, zeigt einen neuen Raum. Im Detail sieht man durch das halbtransparente Plexiglas die kleinen Lufteinschlüsse und Blasen der Acrylfarbe, die Miniaturwelten und Strukturen, die wie in Eis oder Bernstein eingeschlossen sind. Tritt man zurück, wird die aus den Fugen geratene Geometrie der Abstraktion sichtbar: Farben, Formen, Rahmen und Träger sind verschoben und verrutscht, wie Häuser, die an einem Hang standen und durch Erosion ihren festen Grund verloren haben.

Antje Smollich arbeitet auch mit Armierungsgittern und anderen textilen Geweben in zum Teil leuchtenden Farben. Durch Überlagerung der einzelnen Gewebe und Strukturen erzeugt sie einen Moiré-Effekt: so entstehen irisierende Oberflächen und die Bilder beginnen zu flimmern, obwohl es keinerlei Bewegung gibt. Realität und Illusion sind hier untrennbar miteinander verknüpft. Smollich nutzt dieses Material, um eine originäre Bilderfahrung zu schaffen. Das lapidare Ausgangsmaterial schafft durch seine malerische Bearbeitung einen Tiefensog und entwickelt transzendente Qualitäten. Die Bilder sind offen, vor unseren Augen ändern sie, je nach Standpunkt und Lichteinfall, ihre Struktur und Anmutung. Wir sehen einerseits durch die Bilder hindurch, entdecken dort aber keine Tiefe, sondern sehen lediglich die Wand des Ateliers oder der Galerie. Anderseits sind die Farben, Strukturen und visuellen Verführungen so stark, dass sich der Betrachter in Details, Miniaturen, in Farbfelder und wabernden Strukturen verlieren kann. Die Ambivalenz des Sehens ist für die Wahrnehmung der Arbeiten von großer Bedeutung. Denn Smollich fordert uns als Betrachter immer wieder neu heraus: sie schafft Bilder und Räume, bezieht diese aufeinander und begrenzt deshalb ihre Bilder und Bildobjekte auch nicht auf das vom Rahmen vorgegebene Format. Immer wieder geht es der Künstlerin um reale und visuelle Expansionen. Das Bild als Fenster ist eine klassische Metapher der Malerei. Diese gilt so lange, wie wir glauben, dass sich der Blick irgendwohin weiten muss. Lassen wir den Blick aber genau dort enden, wo er bei Smollichs Bildern hinreicht, dann beginnt das Reich der Projektionen. Jenseits der Kontexte, Erklärungen und vermeintlichen Abstraktionen entsteht eine neue Realität.